Der Terror von Hanau

Am 22. Februar 2020 demonstrieren in Hanau Tausende gegen Rassismus und rechten Terror. © Protestfotografie Frankfurt
Am 22. Februar 2020 demonstrieren in Hanau Tausende gegen Rassismus und rechten Terror. © Protestfotografie Frankfurt

Zum rechten Anschlag vom 19. Februar 2020

Erneut fielen Menschen in Hessen einem rechten terroristischen Anschlag zum Opfer. Am Abend des 19. Februar 2020 wurden Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kayolan Velkov, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi und Fatih Saraçoğlu aus rassistischen Motiven in Hanau erschossen. Ihr Mörder tötete danach seine Mutter und sich selbst.

Zuvor hatte er Videos und Pamphlete online gestellt, die vor Rassismus, Menschenfeindlichkeit und Verschwörungsideologien strotzen. Die Taten lassen viele fassungslos und wütend zurück, und sie zeigen, wie tief das Problem des Rassismus in Deutschland sitzt.

Die Morde

Am 19. Februar um 21.58 Uhr erschoss Tobias Rathjen in der La Votre Bar in der Hanauer Innenstadt Kaloyan Velkov und auf offener Straße Fatih Saraçoğlu. Danach feuerte er vom Eingang der Midnight Shisha Bar aus viermal in den Innenraum und traf Sedat Gürbüz tödlich. Einer Person, der er an der nächsten Straßenecke begegnete, passierte nichts, da diese offensichtlich nicht in sein rassistisches Raster passte. Rathjen lief die Straße entlang und schoss dabei mehrfach. Ein PKW fuhr im Rückwärtsgang hinter ihm her, vermutlich war der Fahrer Vili Viorel Păun. In der nächsten Straße betrat Rathjen einen Kiosk, doch es war keine Kundschaft da, und der Betreiber hielt sich im Nebenraum auf. Von dort aus sah dieser, wie Rathjen sich umschaute und dann wieder hinaus ging. Kurz darauf sahen ihn Zeug*innen mit seinem BMW in Richtung des Hanauer Stadtteils Kesselstadt rasen, dahinter ein heller PKW. Vermutlich war es Păun, der ihn verfolgte. Am Kurt-Schumacher-Platz in Kesselstadt trat Rathjen auf das Auto von Păun zu und feuerte durch die Windschutzscheibe. Vili Viorel Păun hatte keine Überlebenschance. In einem Kiosk und in der Arena Sports Bar am Kurt-Schumacher-Platz erschoss Rathjen Ferhat Unvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Mercedes Kierpacz und Said Nesar Hashemi. Es war 22.10 Uhr, der Mörder hatte 52 Schüsse abgegeben und noch 18 Patronen übrig. Er fuhr zum Haus, das er mit seinen Eltern bewohnte. Die Polizei stürmte es um 3.03 Uhr. Der Vater wurde abgeführt, die Mutter lag erschossen im Wohnzimmer, Tobias Rathjen fand man mit einem Kopfschuss auf dem Treppenaufgang zum Keller. Die Polizei geht davon aus, dass er seine Mutter und sich selbst tötete.

Der Täter

Tobias Rathjen wurde 1977 in Hanau geboren und lebte mit seinen Eltern fünf Fußminuten vom Tatort am Kurt-Schumacher-Platz entfernt. Er machte eine Lehre als Bankkaufmann, studierte Betriebswirtschaftslehre, arbeitete in München und Trier und zog schließlich nach Hanau zurück. Arbeitskolleg*innen und Jugendfreund*innen erzählen, er sei introvertiert gewesen, habe sich für überlegen gehalten und oft verächtlich über andere Menschen geredet. In München und später in Frankfurt am Main war er in Schützenvereinen aktiv, zum Zeitpunkt der Tat hatte er legal drei Schusswaffen.

Rathjen gehörte nach bisherigen Erkenntnissen keiner lokalen Neonazi-Szene an. Seine Kontakte an seinen Wohnorten und ins Ausland sind derzeit Gegenstand der Ermittlungen der Generalbundesanwaltschaft. So reiste Rathjen unter anderem im November 2018 in einen kleinen Ort in Wyoming, USA, wo er sich nach Angaben der DIE ZEIT zehn Tage aufhielt und möglicherweise Kontakte zu einer extrem rechten Gruppe suchte. Bisher finden sich keine Hinweise darauf, dass er sich im Internet vernetzt hatte und in rechten Foren aktiv war.

Rathjen veröffentlichte auf seiner eigenen Homepage mehrere Videos und Dokumente, die von Rassismus, Sexismus und Verschwörungsdenken durchzogen sind, darunter ein 24-seitiges Pamphlet. Darin beurteilt er Menschen ausschließlich nach ihrer angeblichen Leistungsfähigkeit und hetzt über »Volksgruppen«, die sich »nicht als leistungsfähig erwiesen« hätten. Diese sollten seines Erachtens vernichtet werden. Den Deutschen (»ein Land, aus dem das Beste und Schönste entsteht und herauswächst«) spricht er die höchste Wertigkeit zu.

Seine rassistische Sozialisation hatte er offensichtlich früh im Elternhaus erfahren. Von seiner Mutter heißt es, sie habe dem Jungen verboten, mit »Ausländerkindern« zu spielen. In dem Pamphlet schrieb er nieder, dass sein Rassismus weniger durch reale Begegnungen geprägt war als vielmehr durch eine rassistisch gefärbte Medienberichterstattung über eine sogenannte »Ausländerkriminalität« und durch ein Erlebnis bei der Polizei. So habe er als Zeuge eines Banküberfalls bei der Polizei eine Kartei »von mehreren hundert potentiellen Verdächtigen« durchgesehen, die seiner Ansicht nach »zu ca. 90 % aus Nicht-Deutschen« bestanden habe.

Unverkennbar ist auch der Sexismus in seinen Ausführungen. Rathjen hatte offenbar nie eine feste partnerschaftliche Beziehung. Dies führte er vor allem darauf zurück, dass es eben keine Frau gegeben habe, die seinen hohen Ansprüche genügt habe. Er schrieb von Frauen nur als Objekte, die ihren »Wert« durch äußerliche Attraktivität erhalten würden.

Verschwörungsdenken

Rathjen glaubte, seit früher Kindheit von einer Geheimorganisation überwacht zu werden, die seine Gedanken lesen würde. Das machte er an Situationen fest, in denen sich Dinge umsetzten, die er sich zuvor ausgedacht habe: die Strategie für den Irak-Krieg der USA, verschiedene Fernseh-Produktionen oder den Plan zum Neuaufbau der deutschen Fußballnationalmannschaft, der dieser 2014 den Weltmeisterschafttitel brachte. Man liest seinen Zorn und seine Verbitterung darüber, dass man ihm seine Ideen geraubt habe, ohne ihn dafür zu honorieren. Mehrfach hatte er Strafanzeigen gegen die Geheimorganisation gestellt und offensichtlich sogar eine Detektei mit der Aufklärung beauftragt. Teile der Anzeigentexte finden sich in dem Pamphlet wieder, jedoch keine rassistischen Vernichtungsfantasien.

Doch er »rächte« sich nicht an denen, die ihn seiner Meinung nach verfolgt und ausgenutzt hatten, sondern er schoss aus rassistischen Motiven auf der Straße, in einem Kiosk und in drei Bars auf Menschen. Darin zeigte sich der durch und durch autoritäre Charakter des Mörders. Er fühlte sich von oben gegängelt und ermordete die, von denen er meinte, dass sie unter ihm zu stehen hätten.

Jenseits der (entpolitisierenden) Pathologisierung, die oft mit der Frage von Schuldfähigkeit im strafrechtlichen Rahmen diskutiert wird, geht es darum zu verstehen, wie Verschwörungsideologien, Rassismus, Sexismus und Antisemitismus zusammenwirken. Denn Verschwörungsdenken — der Glaube, dass geheime Mächte die Wirtschaft, die Medien und die Politik lenken würden — ist der extremen Rechten immanent. »Lügenpresse«, »Umvolkung« und »Gender-Ideologie« sind nur drei ihrer Schlagworte, hinter denen umfassende Verschwörungserzählungen stehen. Die extreme Rechte braucht diese, um komplexe (gesellschaftliche) Sachverhalte in erklärbare Muster zu bringen, um Feindgruppen zu konstruieren und sich auf diese einzuschwören, um das eigene Handeln von jeglicher Fehlerhaftigkeit freizusprechen und um sich als ein elitärer Kreis von »Wissenden« zu erhöhen. Des Weiteren zeigt sich in den rechten terroristischen Taten auch eine Enthemmung von Männlichkeit, die sich auf ein frauenfeindliches, antisemitisches und rassistisches Gedankengebäude stützt. Ein Beispiel hierfür ist Anders Breivik, der dies ausführlich in seinem »Manifest« beschrieb.

Die veröffentlichten Pamphlete und Videos von Rathjen offenbaren seine psychische Disposition. Psycholog*innen gaben Interviews und diagnostizierten Rathjen eine paranoide Schizophrenie. Doch es gab zunächst wenige Versuche, die Morde zu entpolitisieren, zu deutlich hatte der Täter seinen rassistischen Vernichtungswillen artikuliert und umgesetzt. Doch am 27. März zitierten Medien dann aus einem Bericht des Bundeskriminalamtes (BKA) zu den Hanau-Ermittlungen, in dem das BKA unter anderem die These formulierte, dass die Tat zwar rassistisch, der Täter jedoch »kein Anhänger einer rechtsextremistischen Ideologie« gewesen sei. Er habe, so das BKA, »seine Opfer vielmehr ausgewählt, um größtmögliche Aufmerksamkeit für seinen Verschwörungsmythos […] zu erlangen«. Die Initiative 19. Februar Hanau, die gemeinsam mit anderen die Unterstützung für Angehörige der Opfer organisiert, widersprach umgehend: »Verschwörungstheorien, irrationaler Hass, Frauenfeindlichkeit und auch ›psychische Auffälligkeit‹ kennzeichnen das Milieu, in dem die AfD und andere neue Faschisten ihre Massenbasis haben. […] Jetzt, wo die Kameras weg sind, soll scheinbar wieder der ganz normale Umgang von Polizei, Ermittlungsbehörden und Verfassungsschutz stattfinden: Vertuschen und Verharmlosen.« Nach massiver Kritik ruderte das BKA zurück. So äußerte sich BKA-Präsident Holger Münch am 31. März, dass das BKA die Taten als »eindeutig rechtsextremistisch« bewerte und das Tatmotiv rassistisch gewesen sei. Doch der Schaden war bereits angerichtet.

Die Entdeckung des Rassismus

Erstaunlich waren die Reaktionen aus der Politik und den Medien. Wurde in den ersten Berichten einzelner Medien noch von »Shisha-Morden« geschrieben und gesprochen, wurde dies nach massiver öffentlicher Schelte korrigiert. Selbst der Präsident des hessischen Landtages, Boris Rhein (CDU), benannte die Tat als rassistisch, nannte die Namen der Opfer und betonte, dass die Ermordeten »zu uns gehören«. Doch einige scheinen noch alten und falschen Erklärungsmustern verhaftet. Der hessische Innenminister Peter Beuth sprach von »Fremdenfeindlichkeit«, und Angela Merkel bezeichnete Rassismus im Kontext von Hanau als Gift. Dafür erntete sie Kritik, denn Gift ist etwas, das von außen in den Körper eindringt, und kein Bild könnte schiefer sein, um Rassismus in Deutschland zu erklären. Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier bemühte sich um eine klare Haltung, griff aber daneben, als er am Abend des Anschlags in Hanau mahnte: »Wehret den Anfängen!« Ganz so, als habe es in den Jahren zuvor keine rechten Morde in Hessen gegeben.

Deutschsein wird seitens der CDU nun auch People of Colour und Schwarzen Menschen in Deutschland zugesprochen. Und doch bleibt es eine Kategorie für wertes und unwertes Leben. Der Die Linke-Politiker Ferat Koçak machte am 22. Februar in seiner Rede auf der Gedenkveranstaltung in Hanau deutlich, dass die rassistische Politik der Regierung, die sich gerade in beschämender Weise auf Lesbos und in der Türkei zeigt, und die Terrortat von Hanau zusammengehören. Nicht lang ist es her, da bezeichnete Heimatminister Horst Seehofer die Migration als »Mutter aller Probleme«, und Ministerpräsident Volker Bouffier deckt weiter seinen Verfassungsschutz, anstatt zur Aufklärung des NSU-Mordes an Halit Yozgat 2006 beizutragen.

Doch Hanau hat auch gezeigt, dass sich breiter Widerstand regt und viele aus dem NSU-Komplex und der rechtsterroristischen Bedrohung gelernt haben. Auf der Straße und in den sozialen Medien wurde deutlich gemacht, dass man aufmerksam ist, die Berichterstattung, Ermittlungen sowie Reden und Taten der Politik genau beobachtet und einschreitet. Man wird die hessische Politik an ihren Taten messen, nicht an ihren Worten.


Dieser Artikel von Sonja Brasch, Simon Tolvaj und Sebastian Hell wurde zuerst veröffentlicht in der Zeitschrift LOTTA, Ausgabe 78.


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