Die Staatsanwaltschaft als politische Erfüllungsgehilfin

Antifaschistische Demonstration in Frankfurt zum Auftakt des NSU 2.0-Prozesses am 16. Februar 2022.

Eine Nachbetrachtung des NSU 2.0- Prozesses

Nach dem Urteil gegen den Verfasser der Drohschreiben des NSU 2.0 gab es kaum Kritik an der Prozessführung und dem Urteilsspruch des Frankfurter Landgerichts. Doch das Urteil ist offenkundig fehlerhaft. Im Blickfeld steht vor allem die Frankfurter Staatsanwaltschaft, die in diesem Verfahren nicht für eine Sekunde den Eindruck erweckte, an der umfassenden Aufklärung der Straftaten des NSU 2.0 interessiert gewesen zu sein.

Nach neunmonatiger Verhandlung sprach die Vorsitzende Richterin des Landgericht Frankfurt, Corinna Distler, am 17. November 2022 den angeklagten Alexander Mensch schuldig: fünf Jahre und zehn Monate muss der Berliner Neonazi in Haft. Er hatte nach Überzeugung des Gerichts in über 80 Fällen rassistische und misogyne Drohschreiben gegen Personen des öffentlichen Lebens verfasst, von denen er etliche als »NSU 2.0« unterzeichnet hatte. Die Indizien gegen ihn waren erdrückend gewesen. Eine Kernfrage blieb in dem Prozess jedoch unbeantwortet: Woher hatte Mensch die vertraulichen Daten über Wohnadressen und familiäre Situation der Bedrohten, die zur Verstärkung der Drohwirkung in den Schreiben verwandt worden waren? In einigen Fällen konnte nachgezeichnet werden, dass diese Daten zuvor von Computern in Polizeidienststellen abgerufen worden waren. Doch wie gelangten sie zu Alexander Mensch?

Das Narrativ der »unschuldigen« Polizei

Innenminister Peter Beuth, die Frankfurter Polizei und die Staatsanwaltschaft hatten sich bereits lange vor Prozessbeginn darauf festgelegt, dass Mensch über fingierte Anrufe bei Polizeidienststellen und anderen Behörden an diese Daten gelangt sei. Im Prozess stellte sich nun heraus, dass keine einzige Person aus einer Behörde sich an einen derartigen Telefonanruf erinnern konnte, unabhängig davon ob sie darauf hereingefallen war oder nicht. Dennoch sah die Staatsanwaltschaft sah ihre Hauptaufgabe offensichtlich darin, ihre höchst unplausible Erzählung bis zum bitteren Ende durchzufechten. Die Ausführungen von Oberstaatsanwalt Sinan Akdoǧan klangen wie Presseerklärungen des Innenministeriums. Von Anfang an hatte er die Nebenklage als Gegnerin ausgemacht. Seine Ausführungen hatten teilweise keine prozessualen Wert, sondern schienen einzig darauf gerichtet, die Nebenklage zu diskreditieren, sobald diese Anträge oder die Frage nach der Rolle von Polizist*innen stellte. In seinem Plädoyer drängte die Staatsanwaltschaft darauf, die »Unschuld« der Polizei im Urteil festzuhalten. Sie forderte für den Angeklagten eine Haftstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten, als strafverschärfend sei dabei zu bewerten, dass durch dessen Drohungen die Polizei in schlechtes Licht gerückt worden sei.

Faire Prozessführung, fehlerhaftes Urteil

Der Vorsitzenden Richterin Distler ist anzurechnen, dass sie die Nebenklage fair behandelt und den Betroffenen gegenüber die Empathie gezeigt hat, die man von einer Richterin erwarten kann. Auch schien sie durchaus Interesse daran zu haben, die Rolle von Polizist*innen in der Beschaffung und Weitergabe der Daten aufzuklären. Doch dies gelang nicht. In der Urteilsverkündung stellte Distler klar: »Natürlich kann es ein Polizeibeamter gewesen sein, der die Daten übermittelt hat«. Dass die Polizei in einem schlechten Licht dastehe, mochte sie nicht strafverschärfend werten, denn das hätte sich diese selbst zuzuschreiben.

Ein weiterer Knackpunkt des Prozesses war die Frage gewesen, ob der Name NSU 2.0 überhaupt von Alexander Mensch erdacht worden war. Denn das erste Drohschreiben des NSU 2.0, das am 2. August 2018 per Fax an die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız übermittelt worden war, unterschied sich erheblich von den Schreiben, die ab Dezember 2018 zweifelsfrei von Mensch verfasst worden waren. Die Daten von Başay-Yıldız waren an diesem 2. August 2018 von einem Computer des 1. Frankfurter Polizeireviers abgerufen worden. Der Datenabruf zu ihr und ihrer Familie war sehr komplex und untypisch gewesen, fast 15 Minuten waren 17 Abfragen in drei verschiedenen Datenbanken erfolgt. Dies hätte mit Sicherheit kein Beamter und keine Beamtin auf telefonischen Zuruf eines Unbekannten vorgenommen – und niemand vom 1. Revier konnte sich an solch einen Anruf erinnern. Keine zwei Stunden später war die Drohung verschickt worden.

Die Indizien deuteten auf den Frankfurter Polizisten Johannes S. Weitere Ermittlungen ergaben, das er offensichtlich ein Neonazi in Polizeiuniform war. S. hatte an diesem 2. August 2018 auf dem 1. Frankfurter Polizeirevier Dienst gehabt. In der Hauptverhandlung war heraus gekommen, dass er im Internet nach Başay-Yıldız gegoogelt hatte und dass er versucht hatte, sich für den Zeitpunkt, an dem das Drohfax über eine anonymisierte Adresse versendet wurde, ein falsches Alibi zu verschaffen. Ein Ermittler war zudem zum Schluss gekommen, dass dieses Fax über ein mobiles Endgerät gesendet worden war. Doch Alexander Mensch hatte gar keine Affinität zu Handys und Smartphones gehabt. Vor Gericht konnte oder wollte der Beamte dann nicht mehr erklären, wie er zu dieser Erkenntnis gekommen war.

Die Nebenklage hatte in ihrem Plädoyer beantragt, Mensch für das erste Drohschreiben freizusprechen und nur wegen der übrigen Drohschreiben zu verurteilen. Ein Freispruch in diesem Fall hätte zur Folge gehabt, dass das Kapitel NSU 2.0 juristisch nicht hätte geschlossen werden können. Doch Richterin Distler sprach Mensch auch wegen dieser Tat schuldig. Die Begründung für den Schuldspruch war sehr schwach. Schreckte sie letztendlich davor zurück, sich es vollends mit Polizei, Staatsanwaltschaft und Innenministerium zu verderben?

Noch kein Schlusstrich im NSU 2.0-Komplex

Das Urteil ist nicht rechtskräftig, die Verteidigung von Mensch hat Revision eingelegt, über die noch nicht entschieden wurde. So konnte noch kein Schlussstrich unter die NSU 2.0-Drohserie gezogen werden. Es gibt keinen Zweifel, dass dies das Ziel der Polizei und Staatsanwaltschaft ist. Reiht sich doch das Auftreten der Staatsanwaltschaft und in diesem Prozess ein in mehrere ähnlich gelagerte Fälle der vergangenen Jahre, wo Frankfurter Staatsanwält*innen auf teilweise abenteuerliche Art und Weise rechte Taten entpolitisierten oder zu Taten von Einzelnen erklärten. LOTTA berichtete mehrfach darüber (siehe LOTTA #82 und #87). Noch immer bemühen sich Innenministerium, die Frankfurter Polizei und die Justiz unablässig die rechten Netzwerke in der hessischen Polizei klein zu reden.

Gegen Johannes S. und weitere Beamt*innen des 1. Frankfurter Polizeireviers war noch ein weiteres Verfahren anhängig gewesen. In einer Chatgruppe namens »Itiotentreff« hatten sie über 100 rassistische, antisemitische und neonazistische Fotos und Videos getauscht. Mit Beschluss vom 13. Februar 2023 ließ das Frankfurter Landgericht die Anklage nicht zu. Laut der Begründung seien die strafbaren Inhalte schließlich nicht verbreitet worden, auch habe es sich teilweise um Satire gehandelt, die von der Kunstfreiheit gedeckt sei. Die Staatsanwaltschaft sieht das anders und hat gegen den Beschluss beim zuständigen Oberlandesgericht Beschwerde eingelegt. Eine Entscheidung darüber steht noch aus.

Dieser Artikel von Simon Tolvaj wurde zuerst veröffentlicht in der Zeitschrift LOTTA, Ausgabe 90.